Anatolischer Schwabe

Es war schon immer so, dass eher die anderen über meine vermeintliche Identität diskutierten als ich es selbst tat. Ebenso zieht es sich wie ein roter Faden durch mein Politikerleben mit „Migrationshintergrund“, dass mir wahlweise vorgeworfen wird, zu viel oder zu wenig Migrant zu sein – oder gar beides. Wenn es um Fragen der Identität geht, kann man es ohnehin nicht allen recht machen. Das wäre Sisyphusarbeit. Ich habe gelernt, darüber zu schmunzeln, wenn andere besser wissen als ich selbst, wer ich bin. Im Zweifelsfall erzähle ich augenzwinkernd, ich sei „anatolischer Schwabe“.

Obwohl ich in Bad Urach geboren war, hatte ich zunächst die türkische Staatsbürgerschaft. Es galt damals das Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahre 1913. Erst die rot-grüne Bundesregierung hat im Jahr 2000 das längst überfällige Geburtsrecht auch in Deutschland eingeführt. Im Alter von 16 Jahren habe ich einen Einbürgerungsantrag gestellt, weil ich weder den verbindlichen Militärdienst in der Türkei ableisten wollte noch einsah, dass meine Freunde mit 18 wählen gehen durften und ich nicht. Meine Eltern fanden das damals irritierend, übrigens auch einige meiner Freunde. Während sich die Generation meiner Eltern damals nur schwer vorstellen konnte, den türkischen Pass abzugeben, konnten sich interessanterweise manche junge Deutsche kaum vorstellen, warum man freiwillig Deutscher werden wollte.

Ich wollte ein Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten sein, ohne Visumszwang durch Europa reisen und gleichberechtigt im Land meiner Geburt mitwirken. Hier war meine Heimat. Es war völlig klar, dass ich auch Staatsbürger sein wollte.

Die Frage, ob ich nun stolz sei, Deutscher zu sein, fand ich schräg. Schließlich war ich der gleiche wie vorher geblieben, nur eben nun mit deutschem Pass. Auch mit kulturalistischen Debatten, die ihren Höhepunkt in den 2000er Jahren mit dem Begriff „deutsche Leitkultur“ erreichten, konnte und kann ich nicht viel anfangen. Mir konnte auch nie jemand erklären, worin sich denn nun genau diese „deutsche Leitkultur“ festmache? Klar ist, dass man sich auf Spielregeln verständigen muss. Die sind jedoch einem permanenten Wandel unterworfen: Das Deutschland der 1950er Jahre ist nicht das Deutschland von heute. In ganz grundlegenden Fragen hat sich viel verändert, von der Rolle der Frau über die Bewertung von Homosexualität bis zum Stellenwert von Religion.

Das Grundgesetz allerdings hat sich über all die Jahre als exzellenter Rahmen bewährt. Gerade aufgrund der deutschen Geschichte können wir stolz sein auf diese Verfassung.

Zum Weiterlesen: Patriot durch Anerkennung – Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung