Interview: Mein Vater war ein Tscherkesse.

Fragen: Akanda Taştekin

Als Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen ist ihre politische Identität bekannt. Ihre genaue ethnische Zugehörigkeit wird selten erwähnt, abgesehen davon, dass Sie als „türkisch“ bezeichnet werden. Können Sie uns etwas über Ihre tscherkessische Seite erzählen?

Mein Vater war ein Tscherkesse aus der Türkei. Mit dem Deutsch-Türkischen Anwerbeabkommen sind ab 1961 aus der Türkei natürlich auch Tscherkess*innen nach Deutschland gekommen. So ist mein Vater 1963 nach Deutschland gekommen und hat hier meine Mutter kennengelernt. Leider hatte mein Vater lange Zeit praktisch niemanden, mit dem er seine Muttersprache sprechen konnte. Nur im Urlaub, wenn wir in sein Dorf gefahren sind, konnte er Tscherkessisch sprechen. Erst später, durch mein politisches Engagement und durch meine Kontakte in tscherkessische Vereine, die wir gemeinsam besucht haben, fand er Gesprächspartner*innen.

Wurde die tscherkessische Kultur in Ihrer Familie am Leben erhalten?

In der deutschen Kleinstadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, gab es leider niemanden, mit dem wir tscherkessisch sprechen oder die Kultur hätten pflegen können. So beschränkte sich alles darauf, dass ich mit großer Neugierde in den Urlauben im Dorf meines Vaters versucht habe, so viel wie möglich über die Tscherkess*innen zu verstehen. Ich habe mich gewundert, warum wir bei der Einreise in die Türkei mit dem Auto an der Grenze tscherkessische Musik nicht spielen sollten. Später erst habe ich verstanden, dass auch die Tscherkess*innen, so wie alle anderen Minderheiten in der Türkei, auf Folklore reduziert werden sollten. Während meiner Schulzeit gab es, über das türkische Konsulat organisiert, zweimal pro Woche am Nachmittag eine türkische Schule. Dort habe ich irgendwann mal etwas von einem „Çerkez Ethem“ gehört, der ein Verräter gewesen sein sollte. Später habe ich verstanden, dass man in der Türkei eine Minderheit nur dann anerkennt, wenn es um etwas Negatives geht. Die Tscherkessen, ohne die es den erfolgreichen Befreiungskrieg nie gegeben hätte, waren Türken. Nur Ethem wurde nach dem Bruch mit Atatürk zum Tscherkessen.

Interessieren Sie sich persönlich für die tscherkessische Kultur und Identität?

Ich habe während meiner Zeit im Europaparlament jedes Jahr mit der Vereinigung der Tscherkess*innen in Europa einen sehr erfolgreichen „Tscherkess*innentag“ organisiert. Dabei haben wir nicht nur Tscherkess*innen aus vielen europäischen Ländern zusammengebracht, sondern vor allem meine Kollegen im Europaparlament über die Tscherkess*innen und ihre Probleme und Sorgen informiert. Als Grüner Abgeordneter habe ich mich natürlich auch immer sehr stark für die gefährdete Natur in der Republik Adygeja interessiert. Deshalb habe ich sehr eng mit dem Naturschutzbund in Deutschland zusammen gearbeitet, der auch ein Büro in der Hauptstadt Majkop eröffnet hat. Während meiner Reisen nach Israel und Jordanien habe ich dort auch Tscherkess*innen getroffen und besucht. In Israel war ich besonders von dem Dorf Kfar Kama beeindruckt, da die Tscherkess*innen dort ihre Sprache pflegen dürfen und der Staat für die zwei tscherkessischen Dörfer extra Sprachunterricht ermöglicht und die Kultur pflegen lässt. Auch in Deutschland habe ich viele der tscherkessischen Vereine besucht und natürlich auch an einigen Festen teilgenommen. Ich wünschte, ich könnte auch tscherkessisch tanzen. Aber vielleicht kommt das ja noch.

Wir wissen, dass Sie sich für Menschenrechte und universelle Werte einsetzen. Haben ihre tscherkessischen Wurzeln sie dahingehend beeinflusst?

Neben den bereits angesprochenen Aspekten bemühe ich mich sehr, dass das Wissen um die Tscherkess*innen und ihre Geschichte von Vertreibung, Leid und Assimilationspolitik auch in der deutschen Gesellschaft bekannter wird. In Hamburg ist es uns beispielsweise dank einem großartigen Direktor gelungen, eine große Ausstellung über die Tscherkess*innen im dortigen ethnografischen Museum durchzuführen. Auch die olympischen Winterspiele in Sotschi waren ein wichtiger Anlass, um auf das Schicksal der ursprünglichen Bewohner hinzuweisen.
Leider ist es mittlerweile so, dass das instrumentelle Verhältnis der Regierungen in Moskau und Ankara zu „ihren“ Tscherkess*innen dazu führt, dass es im immer schwieriger geworden ist, hier aktiv zu sein, da auch die tscherkessische Community in die Radikalisierung von Putin und Erdogan hineingezogen wird. Ich bedaure das sehr, denn jeder normale Mensch weiß, Putin kümmert sich um die Kaukasus-Völker, so lange er die abchasische Karte gegen Georgien spielen kann, und Georgien interessiert das Schicksal der Tscherkess*innen und anderer im Nordkaukasus, so lange es ihnen gegen die Bedrohung aus Moskau hilft. Erdogan setzt sich mal für Minderheiten ein, mal – aktuell – entdeckt er den türkischen Ultranationalismus für sich als Rettung. Da ist es für die jeweiligen Tscherkess*innen sehr schwierig, eine eigenständige Position zu entwickeln.

Ist der Kaukasus Teil Ihrer persönlichen Vorstellung von Heimat? Hatten Sie jeweils die Möglichkeit, den Kaukasus zu besuchen und Ihre Muttersprache zu erlernen?

Ich hatte es meinem Vater versprochen und bin froh, dass ich mein Versprechen halten konnte, zumindest einmal mit ihm und den Freunden vom deutschen Naturschutzbund in die Republik Adygeja zu reisen. Was soll ich sagen? Ich werde es mein Leben lang nie vergessen. Ob die Tänzer*innen des Nalmes Ensembles, denen ich bei der Probe zuschauen durfte, oder der Ausflug in die Berge und Wälder. Geldgier und mafiöse Strukturen im heutigen Russland bedrohen diese einzigartige Schönheit leider massiv.

Was lässt sich über die tscherkessische Diaspora in Europa und ihre Aktivitäten sagen?

In Deutschland umfasst die tscherkessische Gemeinschaft mehr als 10.000 Personen. 1968 wurde ihr erster Verein gegründet. Heute gibt es Vereine unter anderem in Wuppertal, Köln, München, Nürnberg, Hamburg und natürlich in meinem Wahlkreis in Stuttgart. Für viele Tscherkess*innen war gerade die Demokratie und Vielfalt in Deutschland Anlass, sich öffentlich als Minderheit zu begreifen und ihre Kultur zu zelebrieren. Daher finden sich immer häufiger nordkaukasische Kulturvereine oder tscherkessische Vereine in Deutschland. Ihr Anliegen ist es, ihre Kultur und Sprache an die eigenen Kinder, aber auch ihrer neuen Heimat zu vermitteln. Die Tscherkess*innen wollen auch in Deutschland nicht nur durch ihre beeindruckenden Folkloretänze wahrgenommen werden, sondern auch als eine bedrohte, alte Kultur, die nur überleben kann, wenn sie unterstützt wird und die Verbindung zur Urheimat im Kaukasus nicht abreißt.
Seit sich meine Verbindung zu den Tscherkess*innen herumgesprochen hat, stoße immer häufiger auf Freunde und Bekannte aus dem öffentlichen Leben, die sich mit ihren tscherkessischen Wurzeln outen, darunter auch Shermin Langhoff, die bekannte Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin.

Wie beurteilen Sie die Beziehung der Tscherkess*innen zu ihrer Heimat?

Für die Tscherkess*innen in aller Welt ist der 21. Mai jedes Jahr ein Tag der traurigen Erinnerung an Völkermord und Vertreibung im Jahre 1864. Es ist ein Tag, der an all das Leid erinnert, das nach der Niederlage gegen die Russen in der kaukasischen Urheimat begann. Aber er erinnert sie auch daran, dass es ihnen bis zum heutigen Tag gelungen ist, die Erinnerung an ihre Kultur und Geschichte zu bewahren, trotz aller schwierigen Umstände. Tscherkess*innen wurden in der Diaspora und in all den Ländern, in denen sie Schutz, Aufnahme und eine neue Heimat gefunden haben, meistens schnell loyale Bürger, ohne dabei ihre Herkunft und Kultur zu vergessen. Das beeindruckt mich.

Was ist die Politik der Bundesregierung gegenüber Minderheiten im Hinblick auf Sprache, Identität, und Selbstorganisation)? Finden Sie diese Politik erfolgreich?

Mittlerweile definiert sich Deutschland als Einwanderungsland und hat ein liberales Staatsangehörigkeitsrecht. In unserer liberalen Demokratie kann sich eigentlich jede Gruppe so organisieren, wie sie will. Das Problem hier sind im Gegensatz zur Türkei keine Verbote, sondern mangelnde Unterstützungsstrukturen für ehrenamtlich aktive Tscherkess*innen, die neben Familie und Beruf noch in der Freizeit die Kultur erhalten sollen.
In Deutschland kann jeder sein Gotteshaus für welche Religion auch immer errichten oder sich natürlich auch gänzlich der Religion verweigern. Auch jede Sprache darf frei gesprochen und gelehrt werden. Wenn die Sprache in einer staatlichen Schule nicht gelehrt wird, steht es jedem frei, auf der Basis unserer Verfassung und Gesetze eine private Schule zu gründen. Aber auch hier sind die Probleme nicht in den Gesetzen, sondern in den mangelnden Ressourcen. Ehrenamtliches Engagement kostet viel Zeit, Kraft und Geld. Etwas, das nicht unbegrenzt vorhanden ist.
Leider ist der Fanatismus und Rassismus mittlerweile auch in unseren Parlamenten angekommen. Die ultranationalistische AfD sitzt auch im Bundestag und vergiftet das Klima in unserem Land und verstärkt die Gräben in unserem Land. Es ist spannend, dass diese Partei mit Putin und seiner Politik kein Problem hat. In einer Rede im Bundestag habe ich neben Putin und Trump natürlich auch Erdogan in diese Koalition des Hasses und Fanatismus eingereiht.

Die tscherkessische Diaspora sieht sich durch einen kulturellen Völkermord bedroht. Was ist ihre Empfehlung hierzu?

Da die Tscherkess*innen heute über viele Länder der Welt verteilt sind und sie somit keine gemeinsame Sprache mehr verbindet, wird ihre Kultur oft auf die berühmten Tänze und die legendären tscherkessischen Hochzeiten reduziert. Es ist daher eine anspruchsvolle Aufgabe, die Tscherkess*innen dem Vergessen zu entreißen und ihre gesamte Geschichte und Kultur international bekannt zu machen.

In der Diaspora ist die Sprache und Kultur noch akuter vom Verschwinden bedroht. Durch diverse Aktivitäten versucht die Diaspora, ihre Sprache und Kultur zu fördern. Dort, wo der Staat die Vielfalt seiner Kulturen wertschätzt, gelingt dies leichter; dort, wo eine Ideologie des fanatischen Nationalismus und eine Assimilationspolitik dominieren, dagegen nur sehr schwer.

Was sind die Vorschläge von Bündnis 90/Die Grünen bezüglich Diasporapolitik?

Meine Partei ist eine Partei, die kulturelle Vielfalt aktiv fördert und begrüßt. Neben der deutschen Amtssprache, die möglichst jeder beherrschen sollte und lernen muss, bereichert es unser Land, wenn andere Sprachen gelernt und gesprochen werden. Hier kann und muss die Politik deutlich mehr tun, um auch die Sprachen der eingewanderten Menschen und Flüchtlinge nicht verloren gehen zu lassen.
Die Grenze für Toleranz ist definiert durch unsere Verfassung. Unterdrückung der Frau, Gewalt in der Erziehung und religiöse Intoleranz gegenüber anderen Religionen, anderen Konfessionen oder nicht-Gläubigen sowie sexuellen Minderheiten sind unter keinen Umständen und durch niemand zu akzeptieren.

Welche Möglichkeiten bestehen für tscherkessische Kinder, in Unterricht in ihrer Muttersprache zu erhalten? Gibt es hier Nachfrage? Arbeiten Verbände oder Stiftungen daran?

Wie bereits gesagt, verbieten unsere Gesetze im Gegensatz zur Türkei keine Sprachen. Hier ist das Problem eher praktischer Natur. Vor allem: Gibt es genug Kinder für eine tscherkessische Klasse? Woher kommen die Lehrer? Wer erstellt die Bücher? Wer finanziert es? Selbst für die viel größere Gruppe von Kurden in Deutschland scheitert die Möglichkeit zur Vermittlung ihrer Muttersprache häufig an diesen praktischen Problemen. Oft kommt noch dazu, dass Zuhause ja nicht nur eine „Muttersprache“ existiert, wie bei meinen Eltern. Welche Muttersprache vermittelt man? Es ist seltsam, wir halten uns für gebildet und weltgewandt, aber vergessen oft, dass es früher in den Dörfern normal war, dass man mehrere Sprachen gesprochen hat. Mein Vater sprach neben seiner Muttersprache Tscherkessisch natürlich die Amtssprache Türkisch. Aber auch einigermaßen gut Kurdisch. Mehrsprachigkeit ist nicht nur kein Problem, sondern bereichernd.

Man hört öfters, dass Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, Schwierigkeiten haben, Deutsch zu lernen, dass sie Diskriminierung erfahren und ihre Lernschwierigkeiten nicht anerkannt werden. Wenn diese Behauptungen zutreffen, steht dieses Thema auf der Tagesordnung der Grünen?

Man muss aufpassen, dass man die Putin-Erdogan-Propaganda nicht unkritisch übernimmt. Ich wundere ich manchmal über Deutschland und Europa, wenn ich aus Spaß und Neugierde bei Russia Today oder der türkischen Ausgabe TRT reinschaue.
Die Bildungspolitik ist in Deutschland Kompetenz der 16 Bundesländer. Dort gibt es sehr unterschiedliche Bildungssysteme. Das traditionelle Modell trennt die Kinder nach der vierten oder sechsten Klasse je nach Leistung in weiterführende Schulen, die zu unterschiedlichen Abschlüssen führen. Dieses Modell wird vor allem von meiner Partei, aber auch von vielen Experten kritisiert, da es Kinder oft nach der sozialen Herkunft aussortiert. Kinder aus Familien, in denen die Eltern nicht bei den Hausaufgaben helfen können, weil ihnen entweder das Wissen oder die Sprachkenntnisse dazu fehlen, sind in diesem Modell benachteiligt. Akademikerkinder dagegen, ob deutsch oder nichtdeutsch, haben es leichter, einen Zugang zum Gymnasium zu erhalten, womit später der Weg zur Universität offen steht. Dort, wo wir in Koalitionsregierungen mit anderen Parteien sitzen, versuchen wir die Schulen so weiterzuentwickeln, dass sie inklusiver für alle Kinder sind, unabhängig vom Einkommen, der sozialen Schicht oder der Herkunft der Eltern. Aber dies ist leider noch ein langer und steiniger Weg.

Das Interview wurde ursprünglich auf Türkisch und Tscherkessisch veröffentlicht.