Was geht mich das an? – Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft

Der Holocaust macht, wie kein anderes Ereignis, die Abgründe und Grausamkeiten deutlich, zu denen Menschen fähig sind. Die Verantwortung, die daraus für jede und jeden erwächst, liegt darin, wie Theodor Adorno einst treffend formulierte, dass Auschwitz sich nie wiederholt. Doch ist die Verantwortung in Deutschland eine besondere. Es war schließlich hier, wo Juden aus ihren Wohnungen gezerrt wurden, um in Ghettos oder Konzentrationslager deportiert zu werden, wo sie erschöpft und systematisch ausgehungert starben oder in Gaskammern ermordet wurden. Wer in Deutschland lebt und Teil dieser Gesellschaft ist, wer das Land verstehen will, muss den Nationalsozialismus und den Holocaust kennen – wie es Bundespräsident von Weizsäcker gesagt hat: nicht im Sinne von Schuld, sondern von Verantwortung. Dabei spielt es keine Rolle, woher die eigenen Vorfahren stammen. In diesem Punkt gibt es eine Gemeinsamkeit, die Deutsche und Zugewanderte bzw. ihre Nachfahren teilen können und müssen.

Als ich noch Schüler war, kam einmal eine Zeitzeugin aus meiner Geburtsstadt Bad Urach in unsere Schule. Sie war keine klassische Widerstandskämpferin, sie war eine Sozialdemokratin, die versucht hat, während des Nationalsozialismus anständig und aufrecht zu leben. Damals stand sie vor der Entscheidung, entweder Mitglieder der NSDAP zu werden oder ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Sie musste ihre Kinder allein großziehen und ist trotzdem nicht eingetreten. Mich hat das stark beeindruckt. Später besuchte ich sie regelmäßig zu Hause. Von ihr habe ich vermutlich mehr über den Nationalsozialismus und die junge Bundesrepublik gelernt als in der gesamten Schulzeit. Doch eine solche Möglichkeit werden künftige Generationen nicht mehr haben.

Dabei ist die Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik ohne die Schrecken des Nationalsozialismus nicht zu begreifen. Unsere Verfassung und unsere Grundhaltung zu den Menschenrechten sind direkte Auswirkungen der Verantwortung, die aus dem Holocaust folgt. Eine Erinnerungskultur, die Vergangenes vergegenwärtigt, ist daher unverzichtbar.

In der Einwanderungsgesellschaft müssen wir diese Erinnerungskultur allerdings neu betrachten, denn sie unterliegt einem Wandel: Die Zeitzeugen werden immer weniger, während die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund, die keinen familiären Bezug zum Nationalsozialismus und zum Holocaust haben, wächst. Für Deutschland entsteht damit nicht nur die besondere Herausforderung, die Erinnerung an die Katastrophe wach zu halten und daraus moralische und politische Konsequenzen für unser Handeln zu ziehen – es muss uns auch darum gehen, die »neuen Inländer« mitzunehmen. Viele Kinder in unserer ethnisch vielfältigen Gesellschaft kennen das Thema von zuhause aus nicht oder bringen andere nationale Erinnerungen mit. Die aktive Gestaltung einer Erinnerungskultur muss darauf reagieren.

Antisemitische Tendenzen in der Gesellschaft müssen wir entschlossen bekämpfen, ganz gleich aus welcher Ecke sie kommen. Daher dürfen wir nicht darüber hinwegsehen, dass es auch unter MigrantInnen und ihren Nachfahren antisemitische Einstellungen gibt. Wenn dieser Antisemitismus hier thematisiert wird, dann bedeutet das nicht, dass er besser, schlechter oder gefährlicher ist als seine anderen Spielarten – er ist genauso falsch und nicht hinnehmbar. Wer sich offen zu seinem Judentum bekennt, muss sich etwa in einigen Gegenden Berlins nicht nur vor Neo-Nazis in Acht nehmen, sondern leider auch vor Menschen mit Migrationshintergrund.

Den muslimischen Antisemitismus gibt es dabei aber genau so wenig wie den christlichen Antisemitismus. Wenn ein Jugendlicher mit muslimischem Hintergrund antisemitische Stereotype verbreitet, dann bedeutet das noch lange nicht, dass Religion hier eine Rolle spielt. Schließlich kommen wir auch bei deutschen Neo-Nazis kaum auf die Idee, den religiösen Hintergrund als relevant zu betrachten. Vielmehr müssen wir zwischen religiös und politisch-nationalistisch motiviertem Antisemitismus unterscheiden. Letzterer ist ein Ergebnis der jüngeren Geschichte, des ungelösten Nahost-Konflikts und seines bewussten Missbrauchs zur Hetze durch Nationalisten und Fundamentalisten. Der Nahost-Konflikt allein kann jedoch nicht als Erklärung dienen, denn das bedeutete ja, dass Antisemitismus gänzlich verschwände, wenn der Nahostkonflikt gelöst würde. Hinzu kommen Verschwörungstheorien über die Macht der Juden in Politik und Finanzen und der Mythos einer jüdischen Weltbeherrschung. TV-Serien, Medienberichte, Buchveröffentlichungen und Hassprediger heizen den Antisemitismus immer weiter an.

Kein Kind, ob deutsch oder nicht, kommt als Antisemit auf die Welt, es wird dazu gemacht. Umso wichtiger wird die Schule, nicht nur als Ort der Wissensvermittlung, sondern als Ort der Demokratievermittlung – der Vermittlung, dass Demokratie auch eine Lebenseinstellung ist, eine Einstellung gegen jede Art von Rassismus, Militarismus und Antisemitismus. Dafür braucht es überzeugte und überzeugende PädagogInnen, auch und gerade solche mit Migrationshintergrund. Es braucht Bund, Länder und Kommunen, die die Schulen bei diesem Vorhaben nicht allein lassen, sondern unterstützen. Im Idealfall passiert diese Erziehung zur Demokratie gemeinsam mit der Familie, im Notfall aber auch gegen ein Milieu, in dem Juden für alles Böse auf der Welt verantwortlich gemacht werden. Auch der zivilgesellschaftliche Beitrag der Communities, von Imamen und Verbands- und VereinsvertreterInnen ist wichtig. Sie können über ihre Zugänge ebenfalls auf Kinder und Jugendliche einwirken.

Ziel muss es aber ebenso sein, dass MigrantInnen und ihre Nachkommen sich so akzeptiert und angekommen fühlen, dass sie die deutsche Geschichte und die damit einhergehende Verantwortung für sich übernehmen. Wir dürfen Einwandererfamilien nicht länger so behandeln als wären sie nur zu Besuch und ›eigentlich‹ woanders zuhause. Die Erinnerung an den Holocaust ist ein gemeinschaftliches Projekt, an dem wir alle beteiligt sind. Wenn Menschen, die ein Teil unserer Gesellschaft sind – ob deutscher oder anderer Herkunft –, antisemitische Vorurteile haben, dann ist das keine von der Mehrheitsgesellschaft abgerückte Angelegenheit. Dann ist es unser aller Problem. Nur gemeinsam können wir die Zukunft so gestalten, dass ein solch grausamer Zivilisationsbruch nie wieder passiert, nirgendwo. Jede Generation muss das immer wieder von neuem tun.

Der Text ist Cems Beitrag zum Buch „Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten“, herausgegeben von Harald Roth, Pantheon Verlag, München 2014.