Mit Besonnenheit und Solidarität gegen die Angriffe auf Freiheit und Demokratie – Rede vom 20.11.2015

Liebe Freundinnen und Freunde,

wir empfinden eine tiefe Trauer für die fast hundertfünfzig Opfer in Paris, die heute genau vor einer Woche aus dem Leben gerissen worden sind. Denn wir fühlen uns dieser Stadt Paris in besonderer Weise verbunden. Diese multikulturelle Stadt steht für alles das, was für uns Europa ausmacht. Nämlich dass Christen, Juden, Muslime und Atheisten zusammen arbeiten, zusammen lernen, zusammen ausgehen und zusammen feiern. Ihnen galt dieser feige Angriff und darum ist der Angriff auf Paris und seine Menschen auch ein Angriff auf BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und auch ein Angriff auf uns.

Aber wir trauern zugleich auch um die Opfer der Bombenangriffe in Beirut einen Tag vor den Angriffen in Paris. Wir trauern um die Opfer des feigen Anschlags in Ankara. Wir trauern mit den Angehörigen der Menschen des russischen Passagierflugzeugs, das über dem Sinai abgestürzt ist. Wir trauern um die sieben Mitglieder der schiitischen Minderheit der Hazara, die in Afghanistan geköpft worden sind, nur weil sie der religiösen Minderheit der Hazara angehören. Darunter zwei Frauen und ein kleines Mädchen. Wir trauern um die 49 Opfer von Boko Haram, die vorgestern in Nigeria ermordet worden sind. Wir trauern um die Menschen in Syrien und im Irak, die jeden Tag Opfer von ISIS sind, und wir trauern heute um die Toten von Bamako in Mali. Sie alle sind unsere Brüder und Schwestern, Ihnen allen gebührt unsere Anteilnahme und unsere Solidarität.

Ich bin 1994 erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt worden, damals noch in Bonn. In Bonn hat man damals gleichzeitig mit den Bauarbeiten für die König-Fahd-Akademie begonnen. Ein Jahr später wurde sie fertig gestellt und zur Eröffnung kamen der damalige Bundesaußenminister, der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und die Oberbürgermeisterin aus Bonn. Die Lehrpläne kamen aus Saudi Arabien; das heißt die Kinder haben dort für das spätere Leben so wichtige Dinge gelernt wie man einen Arm abhackt, wie man auspeitscht, wie man köpft, wie man kreuzigt, wie man Sklaven hält. Also all das, wofür die wahabistische Sekte in Saudi Arabien steht. In Syrien und im Irak, wo ISIS herrscht, werden jetzt gerade, während wir uns hier gerade versammeln, jesidische Frauen auf Sklavenmärkten verkauft, ihre Männer werden umgebracht und die Kinder versucht man zu Dschihadisten umzuerziehen. Saudi Arabien und einige Golfstaaten sind angeblich unser Handelspartner, sind ein Land, in das wir Waffen liefern und die anderen, nämlich ISIS, wollen wir bekämpfen? Solange diese Heuchelei und Doppelzüngigkeit nicht endlich aufhört, werden wir ISIS nicht bekämpfen können und werden gegen den Terrorismus in dieser Welt niemals Erfolg haben.

Der saudische Wahabismus ist nicht Teil des Problems, er ist die Ursache des Problems. Und ich kann es auch nicht mehr hören, wenn der eine oder andere Islamvertreter quasi ritualisiert erklärt, dass das alles nichts mit dem Islam zu tun hätte. Natürlich ist es falsch, wenn man Terror mit einer ganzen Religion gleichsetzt. Aber es wird doch nicht besser, wenn man über die Probleme, die man hat, nicht redet und sie ignoriert. Es muss eben möglich sein, im Jahre 2015 die Worte des Propheten mit dem Wissen, das wir heute haben, an dem Ort, an dem wir sind, zeitgemäß auszulegen. Und wer das macht, darf nicht um sein Leben fürchten müssen.

Im Jahre 2015 muss es möglich sein, dass man seiner Religion den Rücken kehrt. Dass man konvertiert, dass man die Religion anders auslegt, als die Imame und Muftis dieser Welt es einem vorschreiben wollen. Und auch Folgendes will ich sehr klar sagen: Ich habe einen großen Respekt vor allen Religionen dieser Welt und im Besonderen logischerweise vor der Religionsgemeinschaft, der ich selber entstamme. Aber ich sage auch: Kein heiliges Buch steht über den Menschenrechten, kein heiliges Buch steht über der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland – und das muss glasklar sein in alle Richtungen. Kein Glaubensvertreter, keine Religion und keine Konfession schreiben einer Frau vor, wen sie zu heiraten hat, und ob sie zu heiraten hat. Und kein Glaubensvertreter hat zu entscheiden, ob Schwule oder Lesben heiraten. Das entscheiden sie selbst. Und das werden wir überall in der Welt so beschützen.

Und es gibt noch was, was mir geradezu körperliche Schmerzen bereitet: 2005, als Rot/Grün abgewählt wurde, gab es ja einen Regierungswechsel, aber es gab auch einen Politikwechsel in einer ganz besonderen Frage: Die dann neu eingetretene Koalition sprach nicht mehr von einer Mitgliedsperspektive der Türkei. Damals war es eine Türkei, die sich auf Europa zubewegt hat, die Reformen durchgesetzt hat – in der kurdischen Frage, im Umgang mit den religiösen Minderheiten und im Umgang mit den Nachbarländern. Und was sagte die Bundeskanzlerin? Sie sprach von einer „privilegierten Partnerschaft“. Jetzt, wo sich dieselbe Türkei in die falsche Richtung entwickelt, Tag für Tag autoritärer wird, Minderheiten unterdrückt, und wo schlimme Dinge herrschen, sagt diese Bundeskanzlerin und diese Koalition, dass man mit der Türkei wieder über die Mitgliedschaft reden möchte. Auch diese Art von Doppelzüngigkeit macht unsere Glaubwürdigkeit in der Welt nicht besser.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich muss man mit der Türkei über die Flüchtlinge reden. Aber ich erwarte dann auch, dass man dann nicht nur darüber spricht, wie die Flüchtlinge nicht mehr zu uns kommen, sondern dann muss man auch darüber reden, dass die Kinder der Flüchtlinge in die Schule gehen können, dass sie arbeiten dürfen, dass sich ihre Lebensumstände verbessern. Und ich erwarte wenn deutsche Politiker in andere Länder reisen, dass sie wissen, dass unsere Werte mitreisen. Dann trifft man sich nämlich auch mit der Opposition und macht nicht Wahlkampf für Erdogan.

Ich habe gestern einen Anruf von Mithat Sancar, einem Abgeordneten der HDP, bekommen. Er hat mir geschildert, dass er jetzt gerade in Nusaybin ist. Nusaybin, eine Stadt im kurdischen Südosten der Türkei, ist gerade seit einer Woche abgeriegelt. 80 Prozent der Menschen haben nicht nur eine Ausgangssperre, die haben sie schon seit einer Woche, sondern das Wasser und der Strom sind für sie gesperrt. Das heißt, Schwangere können nicht raus, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Ihr könnt euch das vorstellen, was das heißt. Vier Abgeordnete der HDP haben jetzt einen Hungerstreik begonnen. Ich weiß nicht, wo die große Koalition in dieser Frage steht. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob sie überhaupt steht. Aber ich weiß, wo diese Partei steht. Wir stehen an der Seite derer, die sich auch in muslimischen Ländern für Demokratie, Menschenrechte, für Aufklärung und für die gemeinsamen Werte der Vereinten Nationen einsetzen und nirgendwo sonst. Glaubwürdigkeit ist ein hohes Gut und wir haben als Westen in den vergangenen Jahren leider oft genug auf der falschen Seite gestanden. Ob es der Irakkrieg war, durch die Amerikaner, oder der „war on terror“.

Auch die Tatsache, dass Guantanamo Bay immer noch nicht geschlossen werden konnte, erschwert den Kampf gegen Terror, weil es die Glaubwürdigkeit unserer Werte schwächt. Wir dürfen nicht zu dem werden, von dem die Terroristen sagen, dass wir es seien, sondern wir müssen gerade dann, wenn wir angegriffen werden, unsere Werte, die Werte von Liberté, Égalité, Fraternité erst recht hochhalten.

Diese Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss niemand belehren. Damit wir uns um die Sicherheit kümmern können, dafür brauchen wir eine gut ausgebildete Polizei, dafür brauchen wir Geheimdienste, die ihre Arbeit vernünftig machen. Aber Arbeit vernünftig machen heißt doch nicht, dass man den französischen Außenminister ausspioniert, sondern es heißt, dass man die Terroristen ausspioniert. Und daher ist demokratische Kontrolle mindestens genauso wichtig wie eine angemessene Ausstattung.

Gerade jetzt macht es doch keinen Sinn, dass wir unsere Gesellschaft auseinanderdividieren lassen. Die legen es doch drauf an, dass muslimische Jugendliche das Gefühl haben, dass sie ausgegrenzt sind, damit sie den Terroristen auf den Leim gehen. Also muss die Antwort gerade aus Sicherheitsgründen sein: Jetzt erst recht Integration, jetzt erste Recht Gleichberechtigung, jetzt erst recht mit Flüchtlingen, Einheimischen, Muslimen, Christen, Juden und Atheisten – gemeinsam stehen wir für die Werte dieser Verfassung und für die Werte Europas. Wir ihr wisst, während wir uns hier versammeln, hält auch die CSU ihren Parteitag ab. Die Bundeskanzlerin hat eine Rede gehalten. Ich habe mir ihre Rede nebenbei angeschaut. Ich habe den Eindruck, mit ihrer Rede hätte sie bei uns mehr Applaus bekommen als dort. Sie hat Recht, wenn sie sagt: Abschottung ist keine Lösung. Aber Unrecht haben die, die bei der CSU an dieser Stelle nicht geklatscht haben. Und auch das zeigt, wie groß die Herausforderung ist.

Ich glaube ja persönlich, dass der liebe Gott, wenn es einen gibt, die Dummheit unter den Völkern und Religionen einigermaßen gleich verteilt hat. Wer mir nicht glaubt, den lade ich ein, mit mir montags mal mitzukommen nach Leipzig oder Dresden und sich mal eine Legida- oder Pegida- Demonstration anzuschauen. Dann wisst ihr, es ist wirklich so. Daher ist es umso wichtiger, dass wir klar machen, wir wenden uns gegen jede Art von Fanatismus, gegen jede Art von Extremismus, ob es die Islamisten sind oder die Rechtsradikalen; das eine ist nicht besser als das andere.

Und zum Schluss: Ich habe das vorher schon gesagt, ich komme aus einer muslimischen Familie. Meine Mutter hat immer versucht, eine gute Muslimin zu sein. Sie hat mir – leider nicht ganz erfolgreich – versucht, abends beim Gebet etwas über den Islam beizubringen. Sie hat mich in den christlichen Religionsunterricht geschickt, weil sie sagt, es gibt keinen muslimischen, also gehst du dorthin, und meinte, dort lernst du auch was Richtiges, weil die glauben auch an einen Gott. Und mein Vater hat mir gesagt: Suche deine Freunde nicht danach aus, ob sie die richtige Religion haben, also deine. Suche sie nicht danach aus, ob sie deine Muttersprache sprechen, also Türkisch. Sondern suche sie danach aus, was sie für ein Herz haben und was sie für einen Charakter haben. Warum erzähle ich euch das? Ich erzähle euch das, weil das, was meine Mutter und mein Vater mir beigebracht haben, nicht die Ausnahme ist, sondern all die Freunde, mit denen ich aufgewachsen bin aus der Türkei, türkischstämmig, aus muslimischen Familien, haben Ähnliches von ihren Eltern gelernt. Das ist die vorherrschende Form des Islams, übrigens ein sunnitischer Islam. Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dieser Islam ist auf dem Rückzug, weil der andere Islam, auf den wir zu lange gesetzt haben, und den wir zu lange mit unterstützt haben, immer mehr auf dem Vormarsch ist. Also wenn wir nicht wollen, dass sich die Falschen durchsetzen, dann lasst uns – und das sage ich wirklich im Namen vieler gläubiger und nicht-gläubiger Menschen, die aus muslimischen Familien kommen – dann lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass wir uns nie wieder spalten lassen. Muslime haben genauso so viel Angst vor diesen Terroristen, wie jeder andere auch, der Nicht-Muslim ist. Also, wir stehen zusammen, gerade jetzt erst Recht!

Vielen Dank.