Leitlinien einer wertegeleiteten deutschen Außenpolitik

Cems Grundsatzrede zur Außenpolitik in der Mendelssohn-Remise Berlin vom 4. August 2017 auf Einladung der Schwarzkopf-Stiftung, des German Marshall Fund und des European Council on Foreign Relations

 

Heute vor einer Woche habe ich die documenta in Kassel besucht. Sie sind natürlich nicht gekommen, um heute Abend über Kunst zu reden. Aber ich möchte doch auf einen Kritikpunkt an der Ausstellung (und es gab ja viele!) eingehen: die Ausstellung sei zu politisch, zu anklagend, sogar das Wort „abstoßend“ ist gefallen.

Dabei leben wir doch in hochpolitischen Zeiten! Was würden die Kunstkritiker wohl sagen, wenn die weltweit größte Schau zeitgenössischer Kunst nicht diese Entwicklungen aufgreifen würde, wenn sie nicht hochpolitisch wäre?

Kunst ist immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher Stimmungen und Debatten. Die Realität, die uns die Kunst der documenta vor Augen führt, ist die Realität, die wir Abend für Abend in der Tagesschau sehen: Wir leben in einer vernetzten Welt. Wir sind zusammengerückt mit Menschen weltweit.

Das schafft Herausforderungen und ja, das schürt auch Ängste. Das ist aber auch eine riesige Chance. Denn gemeinsam sind wir stärker als allein. Probleme, die uns gemeinsam betreffen, müssen wir auch gemeinsam lösen.

Es sind vor allem drei globale Herausforderungen, vor denen wir stehen: Sicherheit, Klimaschutz und Entwicklung. Sie sind eng mit einander verknüpft, was auch heißt: Wir werden sie nicht getrennt voneinander bewältigen können.

Wie diese drei Herausforderungen zusammenhängen, zeigt sich beim Thema Flucht: Es kommen weniger Menschen bei uns in Deutschland an als 2015, aber der weltweite Trend zeigt in eine andere Richtung: 65 Millionen sind zurzeit auf der Flucht, so viele wie noch nie!

Und das ist nur der sichtbare Teil des Phänomens. Viele haben gar nicht die Mittel oder die Gelegenheit, sich aufzumachen, um anderswo ein neues Leben aufzubauen. Daher ist es so wichtig, Perspektiven vor Ort zu schaffen! Durch Entwicklungszusammenarbeit und durch Sicherheitszusammenarbeit. Denn die meisten Menschen fliehen vor Krieg und Gewalt, auch das gehört zur Analyse der Fluchtursachen.

Der Klimawandel ist die wohl größte Herausforderung unserer Zeit. Ohne radikales Umdenken werden wir ihn nicht eindämmen können. Die Hauptlast liegt immer noch bei den westlichen Industriestaaten. Wenn alle Menschen weltweit so lebten wie wir in Deutschland, bräuchten wir 3,2 Planeten!

 

Um komplexe globale Herausforderungen bewältigen zu können, müssen wir Krise der Demokratie überwinden

Die Größe dieser Herausforderungen, vor denen wir global stehen, verhält sich diametral zu dem politischen Spielraum, den wir haben, um sie anzupacken. Sprich: Große, komplexe Probleme treffen auf geringen Handlungsspielraum.

Daher ist es essentiell, diesen Spielraum zu erweitern! Das heißt in erster Linie, die Krise der Demokratie zu überwinden. Darauf müssen wir unsere Außenpolitik in Deutschland und Europa ausrichten.

Was meine ich mit „Krise der Demokratie“? Die offene Weltordnung, die seit Jahrzehnten wesentlich von Demokratien getragen wurde, ist im Umbruch. Unsere traditionellen Partner sind geschwächt. Renationalisierung ist in vielen Staaten wieder zur Verheißung geworden. Multilaterale Zusammenarbeit hat an Attraktivität verloren.

Der Druck auf unser Wertegerüst wächst innerhalb des westlichen Bündnisses, in Europa und in den USA, genauso wie von außen. Neue Herrschaftsmodelle, vom menschenverachtenden Islamismus bis hin zum testosterongetrieben Ein-Mann-Regime eines Wladimir Putin oder eines Recep Tayyip Erdogan, wollen Alternative sein zur pluralistischen Demokratie.

Selbst im transatlantischen Bündnis ist der liberale Wertekanon von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten keine selbstverständliche Grundlage mehr. Ich denke hier an die Türkei im NATO-Verbund und natürlich an Donald Trump, der internationale Bindungen als Fesseln betrachtet.

Die Schwäche der Vereinten Nationen wiederum hat nicht nur schlimme Folgen für aktuelle Kriege, sondern auch fatale Langzeitfolgen. Jedes Mal, wenn in Syrien oder anderswo das humanitäre Völkerrecht gebrochen wird, ohne dass die Staatengemeinschaft hart reagiert, verliert das Völkerrecht an Wirkungskraft.

In diese Ordnungslücke stößt nun China vor. Eine wachsende Rolle Chinas ist erst einmal zu begrüßen. Denn dadurch bildet sich sein demografisches und wirtschaftliches Gewicht in der Welt ab. Aber: Vertrauen ist die Grundwährung internationaler Politik. Genau daran mangelt es in der Zusammenarbeit mit einem China, das eine Innen- und Außenpolitik verfolgt, in der freiheitliche Werte kaum mehr als eine Statistenrolle spielen.

Und: Die Wertefrage endet nicht bei China. Wie gehen wir mit Präsident Kagame um, der in Ruanda zwar den Regenwald schützt, aber die Opposition unterdrückt? Wie begegnen wir dem Verbrecher Duterte, der die Philippinen brutal regiert?

Wir beobachten weltweit das Phänomen des shrinking space. Der Raum für zivilgesellschaftliche Arbeit wird in vielen Ländern immer kleiner. Nicht nur in Autokratien, sondern leider auch in gefestigten Demokratien wie Indien oder Israel.

Ob die Weltordnung auch in Zukunft maßgeblich von Demokratien gestaltet wird, ist offen. Dass die Demokratie der prägende Ordnungsrahmen wird, wie wir Europäer noch 1990 in der Charta von Paris proklamierten, ist heute keineswegs mehr sicher.

 

„Wertegeleiteter Realismus“: Realpolitik mit Haltung

Wir brauchen deshalb eine Politik des wertegeleiteten Realismus in Deutschland und in Europa. Damit meine ich: eine realistische und vertrauenswürdige Außenpolitik mit Haltung. Europa bestimmt nicht die Welt, doch die Welt bestimmt uns, wenn wir ihr nicht mit klarem Wertegerüst sowie einer realistischen Einschätzung unserer Möglichkeiten begegnen.

Blinder Idealismus hilft uns dabei wenig. Wir brauchen eine klare Werteorientierung und eine realistische Herangehensweise. Wir Europäer müssen unsere Werteorientierung leben (und damit meine ich: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte) und auf dieser Grundlage mit anderen Akteuren der internationalen Politik kommunizieren, ja sogar kooperieren – selbst wenn diese Akteure unsere Werte nicht teilen oder sogar versuchen, unsere Werteordnung zu unterminieren

Menschenrechte und Interessen sind kein Widerspruch, sondern Menschenrechte sind unser ureigenes Interesse! Die Achtung der Menschenrechte gehört zu jenem Normengerüst der Weltgemeinschaft, das uns als Deutsche frei leben lässt. Deshalb gehören Achtung und Pflege dieser Normen weltweit zu den Kerninteressen der Bundesrepublik.

Ein Beispiel: Nur mit Institutionen, die frei von Korruption sind, können wir langfristig vertrauensvoll und effizient zusammenarbeiten. Das hilft auch unserer Wirtschaft, und das hilft unserer Sicherheit.

 

Neue Initiative zur Stärkung unserer Soft Power: „Außenpolitik der Gesellschaften“

Was heißt „wertegeleiteter Realismus“ in der Umsetzung? Jede Demokratie hat eine Vorbildfunktion. Daraus entsteht, was wir neudeutsch „soft power“ nennen. Aber, und das mussten auch wir Grüne lernen: Um soft power ausüben zu können, müssen wir auch über hard power verfügen. Dass wir manchmal, im äußersten Notfall, auch militärische Mittel brauchen, haben uns Srebrenica, Kosovo und Afghanistan gelehrt. Diese Erkenntnis ist Grundlage eines wertegeleiteten Realismus.

Werte sagen viel über uns aus, und sie binden vor allem uns selbst. Wir können sie Anderen nicht einfach überstülpen. Sondern Andere sollten sie bei uns erkennen und für sich selbst übernehmen, wenn sie das wollen. Das verstehe ich unter soft power.

Wir stehen vor einem globalen Wettbewerb um Werte und Ordnungen, und wir müssen für unsere Werte werben. Gerade in Zeiten, in denen diese Werte durch die Vereinigten Staaten und ihren Präsidenten selbst angegriffen werden, sind wir Europäer gefordert.

Der junge Parlamentarische Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ralf Dahrendorf, sprach 1969 von „Außenkultur-, Außenbildung- und Außenwissenschaftspolitik“. Diese sogenannte dritte Säule unserer Außenpolitik müssen wir in Deutschland und Europa auch heute stärken.

Eine neue Initiative zur Stärkung unserer soft power ist daher unabdinglich. Es muss uns gelingen, um noch einmal Lord Dahrendorf aus seiner großen Rede im Bundestag zu zitieren, „von einer Außenpolitik der Staaten zu einer Außenpolitik der Gesellschaften zu kommen.“ Dies erfordert eine gemeinsame Verantwortung für gemeinsame Ziele durch Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik.

Zivilgesellschaften müssen im Fokus unserer außenpolitischen Arbeit stehen. Je mehr Zivilgesellschaften weltweit unter Druck geraten, umso wichtiger ist es, ihnen zur Seite zu stehen. Sei es in der Türkei, in Venezuela oder in Russland.

Auch zwischen Demokratien müssen wir den zivilgesellschaftlichen Austausch stärken. Wenn die USA sich aus der internationalen Klimapolitik zurückziehen, dann müssen wir verstärkt mit den Akteuren zusammenarbeiten, die sich ernsthaft engagieren: Mit Städten, Kommunen, Bundesstaaten. Kalifornien und Baden-Württemberg haben es vorgemacht.

Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und exportiert in alle Erdteile. Die deutsche Wirtschaft bestimmt unser Image in anderen Ländern maßgeblich mit. Helmut Kohl hat einmal gesagt, dass jeder von uns ein Botschafter unseres Landes ist. Das gilt auch für deutsche Unternehmen.

Die selbstverschuldete Krise der deutschen Autoindustrie schadet unserem Image weltweit. Mit negativen Folgen für unsere soft power und unseren Handlungsspielraum. Wir können unsere Werte nach außen nur dann glaubhaft vertreten, wenn auch unsere Unternehmen sie als Handlungsrahmen ernst nehmen. Werte gehören in die Außenwirtschaftspolitik ebenso wie in die Außenpolitik. Denn Außenwirtschaftspolitik ist ein Teil der Außenpolitik.

 

Hard Power stärken durch mehr Verteidigungskooperation in Europa

Soft power ist wichtig, und gerade deswegen brauchen wir auch die hard power. Ohne auch die harten Mittel der Außenpolitik im Instrumentenkasten zu haben, ist unsere soft power nur wenig wert!

Natürlich brauchen wir eine starke, eine leistungsfähige Bundeswehr. Aber der Blickwinkel muss doch auch hier ein europäischer sein! Wir wollen ein Deutschland, das stark ist als Teil einer Europäischen Verteidigungsunion. Die Rechnung „mehr nationale Rüstungsausgaben gleich mehr Sicherheit“ ist zu einfach gedacht.

Es geht doch nicht nur darum, wieviel wir investieren, sondern in was! Nicht die Höhe unseres BIP sollte über unsere Rüstungsausgaben entscheiden, sondern wie wir zusammen mit unseren europäischen Nachbarn am besten Sicherheit für alle in Europa schaffen können.

Aufgabenteilung in Europa heißt eben nicht, dass wir in allen Gebieten die Nummer eins sein müssen. Ein Deutschland, das zwei Prozent seines BIP für Verteidigung ausgibt, wäre die stärkste konventionelle Kraft in Europa. Das könnte alte Ängste unserer Nachbarn wieder wachrufen.

Eine deutsche Außenpolitik des wertegeleiteten Realismus muss fest in Europa verankert sein. Dafür muss Deutschland seine Rolle in Europa klar definieren.

Europa braucht ein starkes Deutschland. Als Mitgliedstaat mit der größten Bevölkerung und stärksten Wirtschaft trägt es eine besondere Verantwortung für die Zukunft Europas. Was Europa nicht braucht, ist deutsches Großmachtsgebaren, deutsches Von-oben-herab.

Und Deutschland braucht ein starkes Europa, denn ein starkes Deutschland gibt es auf Dauer nur in einem handlungsfähigen Europa. Europas Handlungsfähigkeit zu stärken muss Priorität deutscher Außenpolitik sein.

 

„Heimat Europa“: Das Europa der Bürgerinnen und Bürger stärken

Seien wir ehrlich: Die Krise der Demokratie trifft natürlich auch Europa. Wenn Rechtspopulisten weniger Zugewinne haben als erwartet, gilt das heute in Europa leider schon als Erfolg. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind auch in der EU keine Selbstverständlichkeit, nicht heute und nicht morgen.

In den vergangenen Jahren wurde das Europa der Staaten immer dominanter, man denke nur an die Eurokrise, in der Regierungschefs erst an der Kommission und dann am Europäischen Parlament vorbei entschieden.

Aber wenn jeder nur an sich denkt, ist längst noch nicht an alle gedacht. Deswegen müssen wir das Europa der Bürgerinnen und Bürger stärken und sicherstellen, dass alle mit Europa besser vorankommen.

Europäische Identität und nationalstaatliche Zugehörigkeit sind kein Widerspruch. Ich bin in Stuttgart daheim und in Europa zuhause. Ich bin Schwabe, Deutscher und Europäer. Wir müssen Europa zur „Heimat“ machen, zur „Heimat Europa“. Wir müssen Europa wieder mutig und offensiv verteidigen.

Wann haben wir eigentlich angefangen, Umwelt- und Sozialstandards als Bürokratie zu diffamieren? Dahinter steht doch: Ich will eine kaputte Umwelt, ich will Arbeitnehmer ausbeuten.

Wenn wir es nicht schaffen, hier den Diskurs zu ändern, werden wir auch keine weiteren sozialen und ökologischen Rechte erringen. Ohne Regeln und damit ohne eine funktionierende Verwaltung wird das nicht gehen. Wir müssen hier offensiv und gemeinsam für die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger einstehen und diese weiterentwickeln.

Ich denke hier insbesondere an die Arbeitsmigrantinnen und -migranten innerhalb der EU, über die selten gesprochen wird. Das ist übrigens die Gruppe, die vom Brexit am meisten betroffen ist. Und es sind die Menschen, die in Deutschland Spargel ernten oder unsere Alten pflegen. Wir müssen dieser Gruppe in Europa die Migration erleichtern, ihnen das Gefühl vermitteln, dass Europa „Heimat“ ist, egal ob sie in ihrem Geburtsland oder Arbeitsort leben.

Wir brauchen klare Regeln bei Krankenversicherung, Rente und Anerkennung von Bildungsabschlüssen.

Und: Austausch bringt Verständnis. Da reicht das Erasmus-Programm nicht aus. Es geht hier um alle Bürgerinnen und Bürger Europas. Es wäre doch wunderbar, wenn jeder Europäer, jede Europäerin künftig zwei Sprachen fließend sprechen könnte. Das hatte schon der große Umberto Eco gefordert.

 

Mit Paris mutig Reformen anpacken: Eine EU ohne Frankreich wäre das Ende

Der Brexit ist schmerzhaft und schade. Aber er wird die EU nicht umbringen. Eine EU ohne Frankreich – das wäre das Ende. Deswegen müssen wir alles daran setzen, die notwendigen Reformen gemeinsam mit Paris anzugehen. Die Devise dafür muss sein: en même temps (gleichzeitig). Wir müssen reformieren und investieren.

Und wie bei der Verteidigung zählt auch hier weniger, wieviel Geld wir in die Hand nehmen, sondern wofür wir dieses Geld ausgeben! Wir brauchen eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft in Europa. Hier müssen Berlin und Paris gemeinsam vorangehen. En même temps.

Die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris kann jedoch nur funktionieren, wenn wir auf Augenhöhe zusammenarbeiten und den Mut haben, institutionelle Reformen gemeinsam mit Präsident Macron anzugehen. Da bin ich nicht der erste, der das fordert. Was an dieser Stelle jedoch oft außer Acht gelassen wird, ist die Einbindung der Mitgliedstaaten, die nicht den Euro haben. Es müssen nicht immer alle bei jedem Integrationsschritt dabei sein, aber jeder Integrationsschritt sollte allen prinzipiell offen stehen.

Auch unter so widrigen Umständen wie jetzt müssen wir alles daran setzen, Warschau wieder stärker in das Weimarer Dreieck mit Paris und Berlin zu integrieren. Wir brauchen dafür eine festere Form der Zusammenarbeit: Warum realisieren wir nicht endlich trilaterale Kabinettstreffen im regelmäßigen Rhythmus? Idealerweise bezieht ein „Weimarer Dreieck Plus“ noch weitere Staaten ein. Auch das ist wichtig für den Zusammenhalt in Europa.

 

Um unsere Werte nach außen stark zu vertreten, müssen wir sie in Europa stärken

Wir müssen unsere europäischen Werte auch nach innen aufrechterhalten und stärken. Nur dann können wir sie nach außen stark vertreten. Wenn ein Mitgliedstaat die Stabilitätskriterien bricht, verschickt die EU-Kommission blaue Briefe. Wenn ein Mitgliedstaat die gemeinsamen Werte verletzt – und damit ebenfalls EU-Recht bricht – haben wir jedoch nur wenig in der Hand.

Case-to-case-Entscheidungen sind schwierig und drängen den Verdacht der Einmischung auf. Stattdessen brauchen wir eine kontinuierliche Überprüfung aller Länder. Auch Deutschland gehört hier mit auf den Prüfstand. Auch das gehört zur Solidarität in Europa.

Dafür brauchen wir ein Expertengremium nach Vorbild der Venedig-Kommission des Europarats. Europaparlament und nationale Parlamente müssen das Gremium gemeinsam besetzen. Somit wären Verfassungsexpertinnen und -experten aller Mitgliedstaaten dabei.

Die Umsetzung ist nicht einfach: Denn dieser neue Mechanismus muss von allen mitgetragen und verabschiedet werden. Solange Ungarn und Polen sich gegenseitig decken, wird das schwer sein. Es geht um viel. Nämlich darum, die Grundrechtcharta der EU auch wirklich zur Grundlage der EU zu machen.

 

Jahrhundertherausforderung Klima zur Chefsache im Außenministerium machen

Lassen Sie mich zum Schluss konkret auf die drei großen globalen Herausforderungen eingehen, die ich zu Beginn meiner Rede als große globale Herausforderungen definiert habe: Sicherheit, Klima und Entwicklung.

Drei Projekte haben hier aus meiner Sicht oberste Priorität:

Erstens: Die Jahrhundertherausforderung Klima. Wie Ban Ki-Moon sagte: „Wir haben keinen Plan B, weil es keinen Planeten B gibt“. Die Klimapolitik, und damit verbunden das Thema Energie, muss endlich zur Chefsache des oder der Außenministerin werden. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als eine Klima-Außenpolitik.

Was heißt das konkret? Der Klimaschutz sollte zur ressortübergreifenden Priorität in Deutschlands Beziehungen mit der Welt werden und bei allen Gesprächen thematisiert werden.

Wenn künftig Delegationen reisen, dann reisen selbstverständlich nicht nur Vertreterinnen und Vertreter der alten Industrie. Sondern auch der Teil der Wirtschaft, der die ökologische Modernisierung schon umsetzt. Und warum nicht auch mal ein Vertreter des NABU?

Joschka Fischer hat die Umwelt- und Klimapolitik erstmals institutionell im Auswärtigen Amt verankert. Doch seitdem ist da nicht viel passiert, im Gegenteil: Von Chefsache kann kaum die Rede sein.

Wir brauchen im Auswärtigen Amt einen Staatssekretär, eine Staatssekretärin für Klimaaußenpolitik, der oder die daran arbeitet, dieses Thema durch alle Abteilungen und Referate hinweg zu einem festen Bestandteil unserer Außenpolitik zu machen.

Und auch hier sind wir als Deutschland allein lang nicht so stark wie im europäischen Verbund. Auch ein deutscher Außenminister muss sich bei Klima- und Energiefragen auf europäischer Ebene einbringen.

Woran denke ich genau? Die Europäische Union Europa braucht endlich einen CO2-Mindestpreis, der nachhaltige Investitionen fördert. Der Emissionshandel in dieser Form ist wirkungslos. Und wir müssen auch in Europa den Ausstieg aus der Kohleverbrennung einleiten und dabei Planungssicherheit für die betroffenen Regionen bieten. Diese Energieunion müssen wir so gestalten, dass sie für alle Mitgliedstaaten ein Gewinn ist, dass es keine Verlierer gibt.

Damit wir diese Projekte in Europa erfolgreich anstoßen können, müssen wir Deutschland wieder zum Vorreiter im Klimaschutz machen. Klima-Außenpolitik ist auch Klima-Innenpolitik.

Übrigens: Neben dem Klimawandel verändert ja auch die Digitalisierung unsere Welt massiv: Das mobile Internet hat Räume eröffnet, die großes wirtschaftliches Wachstum ermöglichen, aber auch politische und gesellschaftliche Grenzen sprengen.

Auch dieses Thema müssen wir dringend stärker im Außenamt verankern. Es geht darum, Menschenrechte und Bürgerrechte auch online zu verteidigen, Terrorismus und kriminelle Netzwerk zu bekämpfen und Angriffe von staatlichen oder parastaatlichen Akteuren zu vereiteln. Digitale Bürgerrechte müssen weltweit gewahrt werden. Wir müssen uns mit einer digitalen Ordnungspolitik beschäftigen.

 

Dem islamistischen Terrorismus die ideologischen Wurzeln ziehen

Das Thema Cybersecurity bringt mich zur zweiten großen globalen Herausforderung: Sicherheit. Natürlich müssen wir den islamistischen Terrorismus auch militärisch bekämpfen. Aber wir werden ihn nur besiegen, wenn wir ihn auch an seiner ideologischen Wurzel packen.

Seine Quelle liegt im saudi-arabischen Wahabismus. Hier müssen wir direkt vor unserer Haustüre ansetzen: Es darf kein Geld mehr aus Saudi-Arabien in deutsche und europäische Moscheen fließen. Wir müssen an unseren Universitäten Raum schaffen für eine zeitgenössische Interpretation des Islam. Und wir müssen überlegen, wie diese Forschung eine Rückwirkung in andere Länder mit muslimischer Bevölkerung haben kann.

Im zweiten Schritt müssen wir unserer Partner dazu bringen, diese Bemühungen in ihren Ländern umzusetzen. Wir brauchen ein breites Bündnis für eine containment policy gegenüber dem islamistischen Extremismus. Ganz wichtig ist es hier, die USA – und zwar jetzt – ins Boot zu holen. Der fehlgeleiteten Saudi-Arabien-Politik der Trump-Administration müssen wir entgegensteuern.

Dafür ist es entscheidend, dass wir die Entscheidung über Rüstungsexporte vom Wirtschaftsministerium ins Auswärtige Amt holen. Auch hier gilt: Das „Politische“ nach vorne rücken, Werte einkalkulieren in Entscheidungen! Die Menschenrechtslage eines Landes muss zur verbindlichen Richtschnur für die Genehmigung von Rüstungsexporten werden.

 

Entwicklungszusammenarbeit auf sozialökologische Transformation, mehr Politikexpertise und starke Vereinte Nationen ausrichten

Lassen Sie mich schließlich zum dritten großen Thema kommen: Entwicklung. Heute wird diesem Thema schnell der Stempel „Fluchtursachenbekämpfung“ aufgedrückt. Da schwingt dann oft der Vorwurf mit, Europa wolle sich vor weiteren Flüchtlingen „schützen“. Aber lassen Sie uns nicht vergessen: Vier von fünf Flüchtlingen weltweit werden von Entwicklungsländern aufgenommen!

Es ist also keine Frage des Eigennutz, sondern der Solidarität, auch diese Partner zu entlasten. Wir müssen Entwicklung im 21. Jahrhundert sozial-ökologisch denken. Nehmen wir Afrika: Selbst wenn die Erdtemperatur nur um 1,5 Grad steigen sollte, wären zwei Drittel der heute landwirtschaftlich genutzten Flächen in Afrika nicht mehr urbar!

Und wir müssen Entwicklung viel stärker auf das „Politische“ ausrichten. Ein Beispiel: Der Wiederaufbau von Mossul wird nur funktionieren, wenn es eine politische Lösung gibt, die die Vielfalt der Bevölkerung abbildet. Die eine funktionierende legitime Stadtverwaltung schafft. Dafür brauchen wir Politik-Expertinnen und -Experten. In der Deutschen Botschaft in Baghdad gibt es ganze zwei (!) Politikfachleute! Den Botschafter und einen Fachreferenten. Das ist viel zu wenig.

Wir brauchen eine enge Verzahnung der Arbeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit dem Auswärtigen Amt. Und wir brauchen mehr diplomatische Arbeit. Dass die Bundesregierung dem Auswärtigen Amt nun den Etat kürzen will, ist genau der falsche Weg.

Wichtigster entwicklungspolitischer Akteur weltweit sind und bleiben die Vereinten Nationen. Hier muss Deutschland seinen Einsatz deutlich erhöhen. Nehmen wir das Peacekeeping. Deutschland beteiligt sich immer noch viel zu wenig. Aktuell stellt es nur 31 von über 12.000 VN-Polizisten. Als in New York vor kurzem Kürzungen des Budgets für Peacekeeping beschlossen wurden, ging das auch auf Betreiben Deutschlands zurück.

Und auch hier brauchen wir mehr Europa. Nicht ein ständiger Sitz für Deutschland, sondern ein ständiger Sitz für Europa im Sicherheitsrat sollte Ziel deutscher Außenpolitik sein.

Mit Europa in der Welt Verantwortung übernehmen, mit Haltung und mit Realismus. Das ist meine Vision einer Außenpolitik im Jahr 2017.