Was hält die Gesellschaft zusammen?
Grundlagen einer zukunftsfähigen Integrationspolitik

Cems Grundsatzrede zur Integrationspolitik vom 20. Juli 2017 auf Einladung des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und des Deutsches Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)

 

Als ich zur Grundschule ging, gab es in meiner Klasse nur einen weiteren Schüler nicht-deutscher Herkunft. Heute hat fast jeder dritte Schulanfänger in Deutschland eine Einwanderungsgeschichte – und viele auch einen muslimischen Hintergrund.

Unser Land hat sich in den vergangenen 20 Jahren enorm verändert. Und mit ihm die Parteien: CDU und CSU sind einen weiten Weg gegangen. Und auch wir Grünen haben unsere Positionen weiterentwickelt. Sich zu bewegen, fällt nicht jedem leicht. Aber dieses Aufeinander zugehen, trägt zum inneren Frieden unseres Landes bei.

Es muss – gerade jetzt – klar sein: die Auseinandersetzung um die Zukunft unserer Einwanderungsgesellschaft darf unter uns Demokraten niemals so geführt werden wie mit den Feinden der Freiheit. Wir müssen dieses „Gespräch“ immer so führen, dass der andere Recht haben könnte.

Richtig ist: In Deutschland wurde im Bereich der Integration Fehler gemacht. Heute ist es aber an der Zeit, aus diesen Fehlern zu lernen. Ich möchte, dass wir 2030 sagen können: Zum Glück haben wir damals – nach der Aufnahme so vieler Flüchtlinge – die Weichen anders gestellt – vieles besser gemacht als zuvor.

Ich möchte heute schildern, was aus meiner Sicht zu tun ist: Mit welcher ideellen Haltung ich die Herausforderung der Integration anpacken möchte. Und welche konkreten Maßnahmen ich dafür vorschlage.

 

Die symbolische Kraft eines „Du gehörst dazu!“

Ich habe den Eindruck, dass wir in der Integrationsdebatte die Kraft symbolischer Gesten unterschätzen. Dabei ist es – gesellschaftlich gesehen – doch so wie in einer Familie: Wenn durch eine Ehe ein neues Familienmitglied hinzukommt, dann wird diese Heirat doch auch gefeiert! Symbolische Gesten spielen eine Rolle, wenn es darum geht, dass einander Unbekannte zu Freunden werden.

Kanzler Helmut Kohl, dessen Vermächtnis als großer Europäer ich nicht müde werde zu würdigen, hat einmal eine solche symbolische Geste unterlassen. Nach dem Brandanschlag von Rechtsextremen in Solingen – da hatte Kohl sich geweigert an der Trauerfeier teilzunehmen: Er wolle sich „nicht an einem Beileidstourismus beteiligen“. Man stelle sich vor, der deutsche Bundeskanzler hätte die betroffene Familie Genc damals besucht und vor aller Öffentlichkeit gesagt: „Diese Familie ist auch eine deutsche Familie. Wer sie angreift, greift auch mich an.“

Ich möchte damit deutlich machen, was wir als Gesellschaft Einwanderern auch vermitteln müssen: „Du gehörst zu uns. Es ist nicht wichtig, wo Du herkommst. Wichtig ist, wohin Du willst. Allein daran messen wir Dich!“

Heranwachsende auch mit familiärer Einwanderungsgeschichte sollten erleben und spüren, dass sie mit ihrer Biographie und ihrer Identität nicht draußen vor der Tür stehen, sondern mittendrin und dazugehören. So eine Ansprache ist auch deswegen wichtig, wenn man verhindern will, dass sich jemand sonst woanders eine Schulter zum Anlehnen sucht. Ich komme auf diesen Aspekt im Verlaufe meiner Rede noch zurück.

 

Aus Ausländern sollen neue Deutsche werden

Ich möchte, dass aus Ausländern, die bleiben, Inländer werden. Dass sie sich gleichberechtigt in unsere Gesellschaft einmischen können – und sollen. Es ist gerade diese republikanisch gespeiste und auf starken Individualrechten beruhende Anerkennung, die in einer heterogenen Gesellschaft eine Gefühlsbindung erzeugen kann. Und dies darf man – von mir aus – gern „patriotisch“ nennen. So kann meines Erachtens die ideelle Integration in unsere Gesellschaft gelingen: Einwanderer also nicht nur als Arbeitskräfte, sondern eben als (potenzielle) Staatsbürger von morgen zu begegnen – mit identischen Rechten und Pflichten.

Darum geht es mir: Egal, ob auf der Straße, im Zugabteil oder im Schwimmbad: der andere ist mir ein Gleicher. Diese emotional empfundene Zugehörigkeit ist beispielsweise häufig in den Vereinigten Staaten zu finden. In den USA feiert man ungezwungene Einbürgerungszeremonien. Eingebürgerte bekennen sich dort stolz zu ihrer neuen amerikanischen Identität. Warum tun wir Deutsche uns damit eigentlich so schwer?

 

Aber auch die aufnehmende Gesellschaft muss zur Veränderung bereit sein

Wir müssen uns nicht alle neu erfinden, aber die aufnehmende Gesellschaft verändert sich durch Migration. Integration ist somit nicht eine Aufgabe, die wir – quasi als Bringschuld – nur an die Neuankömmlinge delegieren können. Aber künftige neue Inländer haben eine besondere Aufgabe dabei.

Es ist zwar gut, wenn vermehrt Pädagog*innen mit Migrationshintergrund angestellt werden. Es ist aber schlecht, wenn man dann meint, SIE ALLEIN seien dafür zuständig, sich um die Probleme „ihrer“ Schüler*innen kümmern. Nein, da müssen künftig ALLE mitziehen! Interkulturelle Pädagogik muss zu einer Berufung für alle ALLE Pädagog*innen werden – für die mit und ohne Migrationshintergrund.

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Wir brauchen meines Erachtens eine Selbstvergewisserung über die banale Frage: Wer bin ich? Und: Wer sind wir? Ist es nicht kurios, dass wir – die vermeintlichen „Dichter und Denker“ – selbst im Jahr 2017 immer noch nicht über sprachlichen Krücken, wie „Biodeutsche“ oder „Autochthone“ hinausgekommen sind? Und auch der Begriff der sogenannten „Neuen Deutschen“ – auch der bleibt hohl, solange damit eben nur die Migrant*innen und ihre Nachkommen gemeint sind – und sich eben nicht ALLE Menschen in unserem Land dadurch angesprochen fühlen.

Unsere US-Amerikanischen Freunde sprechen von der „Hyphenated Identity“, also neudeutsch: Bindestrich-Identität. Was dort der Irish-American ist, könnte bei uns der Deutsch-Türke, eigentlich besser Türkisch-Deutsche sein und hier spricht gerade der anatolische Schwabe. Alles etwas entspannter und wir kommen zusammen weiter.

 

„Einheit in Vielfalt“

Meine Überzeugung ist, Integration heißt nicht einfach nur Vielfalt oder Assimilation. Integration heißt: Einheit in Vielfalt, heißt: Gemeinsamkeit der Verschiedenen.

An diesem Leitbild – dieser „Einheit in Vielfalt“- orientiert sich mein Verständnis von Integration. Es geht mir um ein friedliches Zusammenleben von Menschen, die verschiedene Muttersprachen sprechen, verschiedene Biographien haben, die an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt geboren sind. Menschen, die hier in Deutschland in dieser Verschiedenheit zusammenkommen, ihre Verschiedenheit bewahren können und dabei zugleich etwas Gemeinsames schaffen, von dem alle profitieren können.

 

Wir brauchen in unserer Gesellschaft ein neues, glaubhaftes Aufstiegsversprechen

Gibt es so etwas wie den deutschen Traum? Analog zum „American Dream“? Ich finde: wir brauchen genau das.

Als meine Eltern in den 1960er Jahren im schwäbischen Bad Urach eine Familie gegründet haben, war für sie immer klar: Ihr Kind soll es einmal besser haben. Sie arbeiteten hart, weil sie auf das Versprechen zählten: Dass hier jede und jeder alles werden und schaffen kann, egal ob das Kind Jerome, Steffi oder Mesut heißt. Aber dieses Aufstiegsversprechen gilt in Deutschland nicht mehr – zumindest nicht so ohne weiteres.

 

Integration entscheidet sich im öffentlichen Raum und beim Zugang zu öffentlichen Gütern

Ich verstehe Integration als die Befähigung zu Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – sei es in Bildung und Wissenschaft, in der Arbeitswelt oder im kulturellen und politischen Leben. Das fällt aber nicht vom Himmel.

Ich bin überzeugt: Wir werden das Aufstiegsversprechen nur dann erneuern können, wenn wir unsere öffentlichen Institutionen besser machen, in denen Menschen zusammenkommen: Kitas, Schulen, Hochschulen, Jobcenter, Stadtteilzentren, Jugend- und Kultureinrichtungen. Denn das sind die Orte, auf die Benachteiligte besonders angewiesen sind. Dort werden quasi Chancen verteilt – oder eben nicht. Hier entscheidet sich Integration!

Ich sage Ihnen: Meine eben erwähnten Eltern waren angelernte Hilfsarbeiter. Sie haben viel gearbeitet, teils im Schichtsystem. Da hätte mir eine Ganztags-Kita und Ganztags-Schule geholfen. Ralf Dahrendorf hat einmal gesagt: „Die Bildungsrepublik kann an einem Mittagessen scheitern“. Recht hat er.

Die Institutionen waren damals nicht auf Integration ausgerichtet. Und ich habe nur mit großem Glück die Kurve gekriegt. Aber, auf den Zufall sollten wir das Aufstiegsversprechen nicht gründen! Ich meine: Gesellschaftliche Solidarität zeigt sich vor allem im Umgang mit den öffentlichen Einrichtungen, auf die die Menschen angewiesen sind, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Und frage ich mich: Sind öffentlichen Institutionen heute besser in der Lage, diese Aufgabe besser zu erfüllen? Schauen wir in unsere Kommunen. Denn hier findet Integration ganz konkret statt. Hier entscheidet sich, ob aus Geflüchteten eines Tages Inländer werden, die sich einbringen, ob sie unsere Nachbarn werden oder irgendwo am Stadtrand unter sich wohnen, ob ihre Kinder mit unseren zusammen büffeln oder in Sonderklassen.

 

Grundlagen einer zukunftsfähigen Integrationspolitik 

Sprache, Arbeit, Bildung: Das sind für mich drei Säulen einer „zukunftsfähigen Integrationspolitik“. Lassen Sie mich ein paar Hinweise geben, in welche Richtung Verbesserungen gehen sollten.

 

Sprache!

Gute Deutschkenntnisse sind der Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe. Dieser Satz ist heute common sense. Ich muss aber selbstkritisch einräumen, dies war auch bei uns Grünen nicht immer so. Dennoch haben wir Grünen unter Rot-Grün Integrationskurse eingeführt: Ein halbes Jahrhundert nachdem die ersten „Gastarbeiter“ gekommen sind, wurde damit das Erlernen der deutschen Sprache endlich verbindlich für alle Migrant*innen.

Dieser Weg ist der einzig Richtige. Und heute ist der Erfolg dieser Kurse für alle offenkundig. Ich jedenfalls bin stolz darauf, wie viele der Flüchtlinge Deutsch lernen wollen – und wie viele es auch geschafft haben – und das in so kurzer Zeit. Hut ab!

Aber, auch hier können wir mehr tun: Mehr Schutzsuchende sollten die Chance haben Deutsch zu lernen. Das lohnt auf jeden Fall. Das sichere Beherrschen mehrerer Sprachen ist – zweitens – in Zeiten der Globalisierung keine „Multikulti-Folklore“, sondern ein echter ökonomischer Standortvorteil.

Und schließlich finde ich es gut, wenn in Kitas und Schulen – wie z. B. an der Grundschule Nordviertel in Essen –  ein paar Schulstunden Arabisch dazu genutzt werden, damit z. B. syrische Flüchtlingskinder besser Deutsch lernen.

 

Bildung!

Ohnehin sind Schulen für mich mit die wichtigsten Orte der Integration. Schulen sind aber auch für gesellschaftlichen Zusammenhalt von entscheidender Bedeutung: Wenn wir unser Schulsystem stärken, können wir unabhängig von der Herkunft das gesellschaftliche Vertrauen in unser Bildungssystem verbessern. Dafür müssen wir ganz konkret das Kooperationsverbot aufheben, damit der Bund sich auch finanziell an der qualitativen Verbesserung von Bildungseinrichtungen beteiligen kann.

Ich sehe, dass sich die Bildungserfolge von Kindern aus Einwandererfamilien auch – ganz langsam – verbessern. Aber, zufriedenstellen können mich die Ergebnisse nicht. Ich meine, unser Schulsystem ist immer noch zu sehr darauf angelegt, Kinder allzu früh nach Leistung auszusortieren. Und unsere Schulen sind häufig nicht imstande, sinnvoll auf die soziale und kulturelle Vielfalt im Viertel zu reagieren.

Deswegen ziehen so viele Familien mit ihren schulpflichtigen Kinder aus sozialen Brennpunkten weg. Die sind doch nicht auf der „Flucht vor Multikulti“. Nein, sie sind auf der Suche nach guten Schulen! Das ist der Grund.

Wir brauchen eine Exzellenzinitiative auch für Brennpunktschulen. Wir sollten also gerade in sozialen Brennpunkten Schulen zu Orten exzellenter Bildung ausbauen.  Gerade diese Schulen sollten so gut und so attraktiv werden, dass es sich für alle lohnt, im Kiez wohnen zu bleiben. Also auch für Mittelschichtsfamilien – mit und ohne Migrationshintergrund. Wir brauchen also nicht nur eine, wir brauchen viele Rütli-Schulen im ganzen Land.

 

Arbeit!

Der Arbeitsplatz ist der zweite, entscheidende Ort für das Gelingen der Integration: Dort trifft man Kolleg*innen, spricht Deutsch, knüpft Kontakte. Gleichzeitig ist die Arbeitswelt aber auch ein Ort für Ausgrenzung und Diskriminierung. Mit einem türkischen oder arabischen Namen – oder mit einem Kopftuch – hat man bei uns bei Bewerbungen deutlich schlechtere Chancen – egal wie gut man in der Schule war oder wie gut man Deutsch spricht.

Gleichzeitig wissen wir alle: Die Integration der Flüchtlinge der letzten Jahre in den Arbeitsmarkt, das ist eine Herkulesaufgabe. Sie wird uns noch lange beschäftigten – zumal der Bildungsstand und die Arbeitserfahrung von Geflüchteten sehr unterschiedlich ist.

Ich bin mir sicher: Wir müssen gerade jetzt – also am Anfang – massiv – also deutlich mehr noch als heute – investieren, damit Schutzsuchende möglichst schnell eine qualifizierte Arbeit aufnehmen können. Wenn hier gespart wird, führt dies langfristig zu deutlichen Mehrbelastungen der öffentlichen Haushalte.

Ich sehe derzeit drei Probleme: Erstens, es dauert einfach zu lange, bis Schutzsuchende Kurse besuchen können, in denen sie das Deutsch lernen können, das sie auf dem Arbeitsmarkt benötigen. Zweitens, der Prozess  der Arbeitsmarktintegration ist in Deutschland zudem zu bürokratisch. Drittens, hier arbeiten schließlich zu viele Behörden nebeneinander und mitunter auch gegeneinander.

Die Folge: Auch gut Qualifizierte sind zu lange zum Nichtstun verdammt. Das führt zu Frust + Demotivation. Und: Wer lange nicht arbeiten kann, droht den Anschluss zu verlieren an die immer schneller werdende Entwicklung beruflichen Wissens.

Damit sich etwas ändert, brauchen wir Netzwerke vor Ort, die neue Wege gehen. Und: Solche Netzwerk gibt es! Und zwar immer dort, wo sich die Zivilgesellschaft eingemischt hat und immer den Kontakt zur Arbeitsverwaltung, zu den Ausländerbehörden und zur lokalen Wirtschaft gesucht hat. Fragen Sie mal bei den Flüchtlingsräten – wie z. B. in Niedersachsen – nach. Wer tragfähige, innovative Lösungen sucht, wird sie hier finden!

 

Frauen kommt für eine erfolgreiche Integrationsarbeit eine Schlüsselfunktion zu

Frauen sind, gerade wenn sie Deutsch sprechen können, das Scharnier in die aufnehmende Gesellschaft.  Aber leider genau da hapert es: Zu wenig geflüchtete Frauen haben Zugang zu den Integrationskursen!

Und gleichzeitig werden ausgerechnet die Kursangebote kaputt gespart, in denen bildungsferne Einwanderinnen bzw. solche aus streng patriarchalen Familien etwas über die Rechte von Frauen und über gewaltfreie Erziehung lernen können. Ich halte das für absurd.

Ich sage: Bei der Integration von Migrantinnen und geflüchteten Frauen müssen wir uns deutlich mehr engagieren. Integration geht nur über die Emanzipation der Frauen. Es gibt keinen anderen Weg!

 

Einwanderungsgesetz

Wir brauchen ein modernes und zukunftsfähiges Einwanderungsgesetz –  eines das sich – ganz utilitaristisch – an den sozialen und ökonomischen Interessen unseres Landes ausrichtet: Denn, das jetzige Zuwanderungsgesetz ist nicht in der Lage, Einwanderung in Zeiten des demografischen Wandels sinnvoll zu steuern.

Wir brauchen ein Gesetz, dass gerade für kleinere und mittlere Betriebe die Suche nach gut qualifizierten Fachkräften leichter macht. Und ich möchte, dass gut qualifizierte Einwander*innen sich in Deutschland unbürokratisch einen Job suchen können.

Gleichzeitig ist uns allen klar – und auch da ist übrigens unser Wahlprogramm glasklar: „Nicht jeder Schutzsuchende, der zu uns kommt, kann bleiben.“ Auch deswegen brauchen wir ein Einwanderungsgesetz, um Menschen Perspektiven auch jenseits des Asylsystems anzubieten.

Ich meine aber auch: Wenn, dann brauchen wir ein Einwanderungs- und Integrationsgesetz! Denn, wenn unsere Bildungseinrichtungen auch künftig nicht in der Lage sind, den sozialen Bildungsaufstieg auch für Einwandererkinder zu ermöglichen, dann werden potenzielle Fachkräfte sich andernorts niederlassen – dort, wo ihnen bessere Rahmenbedingen geboten werden.

 

 

Für eine Kultur des Hinsehens und der Aufklärung

Ich spreche von der Einheit in Vielfalt. Aber, was ist eigentlich der Kitt, der das Ganze zusammenhält? Ich sage: Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Kultur verlangt allen etwas ab. Konflikte sind in einer offenen Gesellschaft eher die Regel als die Ausnahme. Entscheidend ist der zivilisierte Umgang damit.

Ich meine: Wir dürfen unsere Grundwerte nicht einfach nur vorlesen. Wir sollten sie vorleben – uns und andere dafür begeistern und mitreißen. Wir dürfen die empathische – Emotionen weckende Ansprache – nicht den Rechtspopulisten und Radikalen überlassen.

Menschen, die zu uns kommen, sind mitunter irritiert von unserem liberalen Alltag, den sie hier vorfinden. Aber, warum auch nicht? Häufig haben sie in ihrer früheren Heimat erlebt, dass Meinungsfreiheit eingeschränkt, Erziehungsmethoden patriarchalisch sind und Sexualität tabuisiert wird.

Wir sollten nun vermitteln, dass für uns alle dieselben Regeln gelten, und dass dies die Freiheit und Sicherheit aller gewährleistet. Und dass der Staat strafrechtlich reagiert, wenn Gesetze – wie etwa bei sexuellen Übergriffen – missachtet werden.

Wo es zu Konflikten kommt, da dürfen diese nicht aus einer falsch verstandener Sensibilität gegenüber Traditionen oder Religionen ignoriert oder tabuisiert werden. Wir sollten – als Demokrat*innen – kulturell geprägte Konflikte benennen, ihnen souverän begegnen und sie demokratisch lösen.

 

Von der Vergangenheit in die Zukunft: Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft

Ich meine: unser geschichtliches Erbe – unsere historische Verantwortung – auch das hält eine Gesellschaft zusammen. Auch – und gerade – in einer Einwanderungsgesellschaft – also der „Einheit in Vielfalt“ – ist es für mich unverzichtbar, sich Vergangenes zu vergegenwärtigen.

Wer also dieses Land, in dem man lebt, verstehen will, der muss den Nationalsozialismus und den Holocaust kennen und begreifen – so wie es Bundespräsident von Weizsäcker gesagt hat: nicht im Sinne von Schuld, sondern von Verantwortung.

Dabei gehe ich davon aus: Etwas Gemeinsames entsteht, wenn wir die Geschichten und Perspektiven aller Menschen wahr- und ernstnehmen, die in Deutschland leben – also auch die Geschichten und die Lebenserfahrungen derjenigen, die zu uns einwandern.

Und auf der anderen Seite ist aber auch klar: Unsere Verfassung und unsere Grundhaltung zu den Menschenrechten sind direkte Auswirkungen der Verantwortung, die aus dem Holocaust folgt.

Entscheidend ist für mich aber nun die ganz praktische Frage: Wie gehe ich als Pädagoge mit eventuellen Blockaden um? Wie erzeuge ich bei jemanden, die/der keine eigene bzw. familiäre Bindung an den Nationalsozialismus hat, zum einen Empathie für die Opfer der Nazis – und damit letztlich ein Verständnis für den Unrechtsgehalt dieser Menschheitsverbrechen?

Ich meine, Empathie erzeugt man nur, wenn es gelingt, eine emotionale Identifikation mit dem persönlichen Schicksal von einzelnen Opfern der Nazis zu ermöglichen. Und der zweite Kniff besteht darin, die Nazi-Verbrechen auf ihren eigentlichen Kern herunter zu brechen, nämlich auf die Frage der Bedeutung von Demokratie und Menschenrechten – und den dramatischen Folgen, wenn diese Grundwerte verletzt werden.

Erinnerungskultur wird sich somit immer mehr auf die Vermittlung der Werte und der Bedeutung von Demokratie und Menschenrechten fokussieren.

 

Islam einbürgern

Ein solches – uns alle verbindendes – Menschenrecht ist die Religionsfreiheit. Deren Schutz, der sich aus dem Grundgesetz ergibt – ist auch eine Lehre aus den Verbrechen des Nationalsozialismus. Wir erleben aber, dass dieses Grundrecht in den vergangenen Jahren zunehmend unter Druck gerät: Angesichts islamistischer Terroranschläge sorgen sich viele Menschen und hinterfragen kritisch die Rolle des Islam.

Als Demokraten müssen wir uns dieser Verunsicherung in der Bevölkerung stellen. Ich sage: Pauschalisierungen wie der Islam sei „an allem schuld“ oder der Islam habe „mit all dem nichts zu tun“ – so etwas bringt uns nicht weiter. Mit der Einwanderung hat sich bei uns auch die religiöse Landschaft verändert: Wenn sich inzwischen bei uns über 4 Mio. Menschen als Muslime begreifen, dann ist der Islam in Deutschland eine Realität.

Wer den Islam dennoch ausgrenzt, betreibt letztlich das Geschäft der Islamisten. Ich meine: unser Grundgesetz bietet einen guten Rahmen für die rechtliche Integration von Muslimen. Das hat ihrerseits die Alevitische Gemeinde Deutschland jüngst unter Beweis gestellt. Ich möchte, dass auch andere muslimischen Verbände Teil der Lösung werden. Wir brauchen sie, als die vom Staat anerkannten Ansprechpartner.

Ich sage auch: Es ist wichtig, dass auch muslimische Schüler in deutschen Schulen das Wissen über ihre Religion in einem freien Diskurs aneignen und kritisch hinterfragen können. Das ist der beste Schutzschirm gegenüber dem salafistischen „Versatzstück-Islam“.

Unsere Verfassung stellt an Religionsgemeinschaften aus gutem Grund gewisse Anforderungen. Und leider erfüllen die vier großen muslimischen Verbände diese derzeit noch nicht. Erstens unterscheiden sich die vier Verbände nur aufgrund sprachlicher, nationaler, und vor allem politischer Aspekte – nicht aber anhand des religiösen Bekenntnisses. Zweitens handelt es sich bei der DITIB de facto um die politische Vertretung eines türkischen Ministeriums in Deutschland. Drittens gab und gibt es auch verfassungsrelevante Zweifel und Vorbehalte gegenüber einzelnen Verbänden bzw. Teilorganisationen.

Und schließlich können die Verbände nicht klar darlegen, wen genau sie vertreten. Das ist aber Voraussetzung dafür, wenn man z. B. Religionsunterricht als versetzungsrelevantes Schulfach anbieten will. Ich möchte, dass sich das ändert. Ich möchte z. B., dass die muslimischen Gemeinschaften in gesellschaftspolitischen Debatten, gleichberechtigte Dialogpartner werden – ähnlich wie die christlichen Kirchen oder der Zentralrat der Juden.

Was wäre es für ein Gewinn, wenn wir z. B. bei der Erörterung medizinethischer Fragen (von der Sterbehilfe bis zum Schwangerschaftsabbruch), bei ökologischen und sozialen Fragen bis hin zu Diskussionen über Krieg und Frieden künftig immer auch muslimische Stimmen hören würden. Was für eine Chance. Was  für eine Perspektive. Veränderung aber fällt nicht vom Himmel. Bei den Verbänden ist Bewegung statt Abwehrhaltung gefragt. Sie haben es auch selbst in der Hand.

 

Was aber tun?

Ich plädiere für einen Neustart der Islamkonferenz: Nach 10 Jahren muss da jetzt endlich geklärt werden: Wer muss was genau tun, damit die Integration des Islam gelingen kann?

Und wir müssen endlich die Ausbildung von islamischen Geistlichen und Wissenschaftler*innen in Deutschland deutlich ausbauen. Ich möchte nicht länger Imame in unseren Moscheen sehen, die kein Deutsch sprechen und die keine Ahnung haben von unserer Gesellschaft. Ich möchte keine Imame mehr, die von Erdogan bezahlt und sogar zum Spionieren eingesetzt werden. Und wir müssen die durch Saudi-Arabien finanzierte Ausbreitung des islamistischen Wahabismus – also eines vor-mittelalterlichen Islam in Deutschland – endlich beenden.

 

Was unsere Gesellschaft zusammenhält: Die Notwendigkeit eines Neuanfangs

Lassen Sie mich zum Schluss kurz noch etwas zur Leitkultur-Diskussion sagen: Ich könnte es mir leicht machen. Ich könnte laut fragen: Ist jemand für eine Debatte um die deutsche Leitkultur qualifiziert, der seine 10 Thesen mit dem grammatikalisch verquasten Satz betitelt „Wir sind nicht Burka!“?

Und ich könnte meine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, dass Thomas de Maizière – der sich ja gern auch Verfassungsminister nennt – eine Rede zur deutschen Leitkultur hält mit der Überschrift: „Das Grundgesetz kann kein gutes Miteinander definieren“. Aber, das wäre zu einfach.

Obwohl damit ein Punkt sehr klar wird: den Konservativen geht es mit der Leitkulturdebatte im Kern darum, die Identität dieses Landes – ganz in der Tradition der deutschen Romantik – über etwas zu definieren, was jenseits der Verfassung liegt – mit etwas Über-Natürlichem.

Ich stelle fest: Die Union führt die Leitkultur-Debatte seit nunmehr exakt 17 Jahren. In dieser Zeit ist es ihr nicht gelungen, diesen Begriff zu definieren; klar und transparent dazulegen, was die deutsche Leitkultur denn nun ausmachen soll.

Ich möchte allerdings – endlich – einen Schritt vorankommen. Und daher erinnere ich an meine Eingangsworte: Ja, eine Gesellschaft der Vielfalt braucht eine Art von „Selbstvergewisserung“ –  eine „emotionale „Gefühlsbindung“. Denn ich spüre: Vielen Menschen ist es wichtig, sich mit den anderen Landsleuten nicht nur über die verfassungsmäßige Ordnung, sondern auch über z. B. historische Erfahrungen oder auch kulturelle Gemeinsamkeiten in Beziehung zu setzen.

Ich bin Verfassungspatriot. Und als solcher gebe ich zu: Die spröde Sprache des Grundgesetzes strahlt wenig Behaglichkeit aus. Nur, was wäre die Alternative? Etwa die „Umgangsformen und Gebräuche“, so wie es der Deutsche Kulturrat jüngst vorgeschlagen hat? Oder sinnliche Eindrücke, wie z. B. bestimmte „Gerüche“, von denen der Bundesinnenminister schrieb? Und wenn ja, dann welche Gerüche: Die aus der Bonner Kindheit des jungen Thomas de Maizière? Oder auch die 1001 Gerüche der Sonnenallee? Was gehört denn nun zu Deutschland?

Ich gebe gerne zu: Mit einem Blick in die Verfassung werden nicht alle moralischen Fragen automatisch beantwortet. Und doch: Kein heiliges Buch – und auch keine Kultur steht über dem Grundgesetz.

Churchill hat einst über die Demokratie Folgendes gesagt: sie sei „die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind“. Insofern würde ich sagen: Mein Verfassungspatriotismus mag nicht alle erwärmen. Aber eine bessere Alternative wüsste ich nicht.